Abschlussbericht von Prof. Dr. Michael Beuthner, Prof. Dr. Udo Bomnüter, Kirsten Ulbrich, Carolyn Pliquet
Aufgabenstellung & Zielsetzung: Ziel des Teilvorhabens war die systematische Erfassung der (1) Erwartungen und Ansprüche von Journalist*innen (nachfolgend JOUR) und von Social-Media-Akteur*innen (nachfolgend SMA) an die von Regierungen, Behörden und Organisationen der Gesundheitssicherung zugelieferten Informationen im Krisenfall sowie entsprechende Optimierungsmöglichkeiten. Darauf aufbauend wurden (2) Gründe und Motivation für die jeweils eigene inhaltliche und formale (Um-)Gestaltung der Beiträge erfragt. Darüber hinaus wurde analysiert, (3) inwiefern in der Konzeption von Beiträgen die Zielgruppen und deren Interessen einbezogen wurden und ob die Berichterstattung bestimmte Funktionen erfüllen sollte. Abschließend ging es (4) um die Bewertung der eigenen Risiko- und Krisenkommunikation und die der jeweils anderen Gruppe. Diese grundlegende Aufteilung des Forschungsinteresses strukturiert zudem untenstehende Ergebnispräsentation zur durchgeführten Expertenbefragung.
Vorgehen: Das Teilvorhaben warals mehrstufiges Mixed-Method-Design angelegt. Auf Basis einer Null-Messung (Erhebungszeitraum: 11.01. – 28.02.2022) von Beiträgen (n=221.102)[1] in journalistischen Online-Medien und Sozialen Medien erfolgte zunächst eine (Vor-)Auswertung u. a. nach Anzahl und Reichweite[2], Top-Medien, Verteilung über die Mediengattungen, Tonalität und Aufbereitung. Daraufhin wurden von 100 JOUR und 100 SMA je 5 Beiträge genauer bezüglich ihrer multimodalen Aufbereitung und funktionalen Grundausrichtung betrachtet. Zudem diente die Vorauswahl zur Identifizierung von JOUR und SMA für eine anschließende qualitative Befragung. In der Hauptuntersuchung wurden 30 JOUR und 15 SMA auf Basis leitfadengestützter Experteninterviews befragt. Die angewandte qualitative Methode hat explorativen Charakter, die Ergebnisse sind somit nicht repräsentativ.
Zusammenfassung der wichtigen Ergebnisse und Erkenntnisse:
Nullmessung: In 71% aller 221 Tsd. Beiträge wurde das RKI als Quelle genutzt. Bei den codierten Beiträgen der JOUR (n= 416) waren 399 informierend und nur 17 meinungsbildend. Bei den codierten Beiträgen der SMA (n= 432) waren 230 meinungsbildend und 209 informierend. Die codierten JOUR Beiträge hatten eine Reichweite (gemäß Verlagsangaben) von 381 Mio., die SMA von nur 3,6 Mio. Personen. 114 Tsd. Beiträge hatten einen überregionalen Bezug, 104 Tsd. einen regionalen Bezug. Bei den JOUR hatten 76% einen Link im Beitrag und bei 67% wurden vor allem Infografiken aus offiziellen Quellen übernommen. Bei den SMA wurden bei 65% der Beiträge Links eingefügt und bei 31% Visualisierungen übernommen. In 186 von 416 Beiträgen der JOUR waren Videos integriert, bei den SMA waren es nur 67 von 432.
Qualitative Befragung:
Quellennutzung und -beurteilung: Das RKI war meistgenutzte Quelle der JOUR und SMA (beide 67%) neben dem Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Gesundheitsämtern, Landesregierungen und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI). Weitere Quellen waren bei den JOUR vor allem die Johns Hopkins University und bei den SMA andere deutsche und internationale Medien. Das RKI-Dashboard wurde von den JOUR für aktuelle Inzidenzwerte, regionale Einordnungen, Impfdaten, Hospitations- und Todeszahlen genutzt. SMA nutzten das Dashboard für die Recherche (Rohdaten). 20/30 der JOUR hatten Vertrauen in die behördlichen Quellen, 13/30 nutzten aber nicht-behördliche Quellen zum Faktencheck, 11/30 hielten das Zwei-Quellen-Prinzip bei der Prüfung von Fakten für nicht umsetzbar. Nahezu alle befragten JOUR (29/30) übten Kritik an der behördlichen Kommunikation. Die unterschiedlichen Arbeits- und Informationsgeschwindigkeiten des Journalismus und der Behörden seien kaum miteinander vereinbar. Die an Echtzeit orientierte Berichterstattung der Medien erfordere eine schnellere Zurverfügungstellung von Informationen. JOUR beklagen außerdem die unzureichende digitale Aufbereitung des Behördencontents und eine schlechte Erreichbarkeit bei Nachfragen. 27/30 fragten aktiv bei Behörden nach, zum Beispiel bzgl. unzureichender/unpünktlicher Datenzulieferungen, bei inhaltlichen Unklarheiten sowie zum Einholen direkter Zitate. Nur die Hälfte der SMA (8/15) gab an, aktiv bei den Behörden nachgefragt zu haben. Die SMA äußern vor allem Kritik an der Politik selbst, ohne auf den kommunizierten Content einzugehen. Des Weiteren äußerten auch sie Kritik am langsamen Tempo der Behörden, fehlender Datenaktualität, an fehlender Wissenschaftlichkeit und mangelnder Transparenz.
Optimierungsvorschläge: JOUR und SMA wünschen sich mehr Einheitlichkeit, Verständlichkeit und wissenschaftliche Erläuterungen der Daten. Weiterhin plädierten JOUR für eine proaktivere und schnellere Kommunikation der Institutionen. Die JOUR lobten die (Freitags-)Briefings durch das RKI. Vor allem aber müsse die Digitalisierung seitens der Behörden dringend optimiert werden.
Eigene Aufbereitung: 20/30 der JOUR arbeiteten bei der Visualisierung mit einer internen Grafik-Abteilung und Datenjournalist*innen zusammen, wobei es unterschiedliche Herausforderungen aufgrund der Vorgaben des Mediums gab. 9/30 der JOUR nutzten externe Grafiken und Bilder oder erstellten sie selbst. Bei den SMA hingegen nutzten 9/15 externes Bildmaterial oder erstellten eigene Grafiken. Zudem nutzten 19/30 JOUR Storytelling, in Form des Geschichtenerzählens (Reportagen) über Betroffene. Bei den SMA waren es nur sechs, obwohl 10/15 SMAs durch persönliche Betroffenheit zur Berichterstattung motiviert waren. Als Einflüsse auf die Arbeitsweise benannten JOUR eine ressortübergreifende Zusammenarbeit (19/30), die Verlagerung ins Homeoffice (17 /30) und eine Anpassung von Workflows (8/30).
Zielgruppenbezüge: JOUR beachteten die Altersgruppen bei der Content-Erstellung (16/30), das Bildungs- und Sprachniveau (14/30) sowie den Regionalbezug (10/30). 10/15 SMA gaben an, keine speziellen Zielgruppenbezüge herzustellen, vier sahen den Regionalbezug als wichtig an.
Content-Funktionen wurden von den JOUR differenziert nach „Informieren“ (17/30), „Bereitstellung praktischer Informationen“ (13/30), „Einordnung politischer Maßnahmen“ (13/30), sowie „Appellieren“ (7/30) und erst zuletzt „Hinterfragen/ Kritisieren“ (5/30). Bei den SMA war die primäre Funktion hingegen „Hinterfragen/Kritisieren“ (7/15); nur vier betrachteten das „Informieren“ als wichtig.
Selbstkritik: 28/30 der JOUR halten sich in Krisen für systemrelevant. 20/30 meinen, dass Journalismus eine Warnfunktion haben sollte. JOUR lobten die Schnelligkeit ihrer Berichterstattung, den Umgang mit Wissenschaft, die grafische Aufbereitung und den Servicecharakter der Berichterstattung. 4/15 SMA sahen ihre Objektivität, auch im Vergleich zu den JOUR, und den Umgang mit Wissenschaft als gelungen an.
JOUR kritisierten vor allem ihre zu geringe Kritik an politischen Maßnahmen (7/30), die zu geringe Einbeziehung Betroffener (7/30), sowie zu extensive Berichterstattung über Extremfälle (5/30). Als Optimierungsbedarf sehen JOUR neben vermehrter Kritik einen differenzierten Umgang mit Querdenkern und die Verbesserung der eigenen Expertise. 7/15 SMA übten keine Selbstkritik, 3/15 nannten eine mangelnde grafische Aufbereitung, 2/15 Formulierungsschwächen.
Blick auf Social Media / auf Journalismus:25/30 JOUR gaben an, Soziale Medien regelmäßig gescannt zu haben. 23/30 nutzen sie zur Themenidentifikation, wobei ein Drittel sie eher kritisch als Verstärker des Informationsüberflusses bzw. als unsichere Quellen ansieht. Zudem seien SMA anfällig für extreme Stimmungen und Einflussnahme auf User*innen (5/30). In den Sozialen Medien verbreitete Fake News wurden eingeordnet (14/30) bzw. Faktenchecks veröffentlicht (9/30). Für die Zukunft würden 17/30 JOUR die Kommunikation in den Sozialen Medien verstärkt nutzen wollen.
9/15 SMA bezogen sich auf journalistische Berichterstattung. 7/15 nutzten Journalismus zum persönlichen Informieren. Jeweils 9/15 beklagten eine starke Vereinfachung und betrachteten die Berichterstattung als einseitig. 8/15 beanstandeten einen Mangel an Kritik, während 6/15 den Medien unzureichendes Fachwissen vorwarfen. Sie selbst würden kritischer und mit einer klaren politischen Positionierung kommunizieren (je 5/15). 4/15 SMA warfen den JOUR vor, „Sprachrohr“ der Politik zu sein.
Zusammenfassung und Ausblick
Die Projektergebnisse wurden bzw. werden in mehreren Publikationen vorgestellt, darunter das Handbuch Krisenkommunikation in der Pandemie, welches 2026 im Verlag Springer veröffentlicht wird. Darüber hinaus wurden die Befunde auf nationalen und internationalen Konferenzen (EMMA; ECREA, ICA) und in der Ausstellung #Krisenalltag – Kommunikation in der Pandemie sowohl in Berlin (Museum für Kommunikation 2023) als auch in Meldorf, Schleswig-Holstein (Landesmuseum Dithmarschen, 10/2024 – 10/2025) als innovatives, interaktives Wissenschaftskommunikationsformat vorgestellt. Lehrangebote an der SRH University, Campus Berlin, wurden mit Hilfe der Ergebnisse optimiert, insbesondere in Form eines neuen Moduls zur „Krisenberichterstattung“ des Journalismus im BA-Studiengang Management der Kreativwirtschaft. In BA-Kolloquien/Forschungsseminaren fließen die Ergebnisse ebenso ein und führen zu Folgeuntersuchungen im Rahmen von studentischen Abschlussarbeiten und -projekten. In Fortführung des MIRKKOMM-Forschungsprojektes ist darüber hinaus ein SRH Science Talk-Format zum Thema „Medien, Meinungsfreiheit und Demokratie – Ein Verhältnis auf dem Prüfstand“ entstanden, in dem namhafte Referent*innen aus Wissenschaft, Medien und Politik studiengangsübergreifend und interdisziplinär über Gefahren und Krisenpotentiale für die Demokratie, welche durch die digitale Transformation und neue (aggressive) Kommuniktionslogiken hervorgerufen werden, sprechen und mit Studierenden diskutieren.
Insgesamt dokumentiert das Teilprojekt nicht nur die Defizite staatlicher Krisenkommunikation während der Pandemie, sondern zeigt zudem die Erwartungshaltungen des Journalismus und der Social-Media-Akteure auf und deren jeweils selbstkritischen Blick auf die eigenen Defizite und Herausforderungen. Deutlich geworden ist, dass unterschiedliche Anspruchshaltungen, Arbeitstempi, Kommunikationsstile, Informationsaufbereitungen, Funktionsverständnisse und Zielgruppenorientierungen in Krisen wie der COVID-19-Pandemie aufeinanderprallen. Optimierungen vorzunehmen – insbesondere seitens der Behörden und Regierungen –, bedeutet vor allem, sich dieser Unterschiede klar(er) zu sein/zu werden und mit ausreichenden Ressourcen, verbesserter Digitalisierung und erfahrenem Personal derart zu begegnen, dass die wichtigen Intermediäre Journalismus und Social-Media-Akteure rechtzeitig und ausreichend, verständlichen und gut aufbereiteten Content erhalten, damit durch deren Kommunikation schlussendlich kein Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust, keine Widersprüche in der Sach- und Datenlage und Verunsicherungen in der Öffentlichkeit entstehen. Denn gerade diese Aspekte haben sich in der COVID-19-Pandemie als Brandbeschleuniger erwiesen.
Daher liefert das Teilprojekt eine empirisch fundierte Grundlage für die Optimierung staatlicher Risiko- und Krisenkommunikation und leistet damit einen Beitrag zur wissenschaftlichen Fundierung von Weiterbildungskonzepten und zur Entwicklung von Handreichungen. Damit stellt es – wie alle Teilprojekte im MIRKKOMM-Verbund – einen Baustein für die Weiterentwicklung der Risiko- und Krisenkommunikation in Zeiten multipler Krisen dar.
[1] Es wurden ausschließlich Meldungen im Online-Bereich gescannt, die den zentralen Suchbegriff „COVID-19“ enthielten (oder Synonyme , z.B. „Corona“, „SARS-CoV-2“), kombiniert mit behördlichen Institutionen: Bundesministerium für Gesundheit (BMG),RKI, Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI), World Health Organisation (WHO), Ständige Impfkommission (Stiko), Johns Hopkins University, Ministerpräsidentenkonferenz (MPK). Ausgeschlossen wurden Meldungen von Nachrichtenagenturen, Recherchenetzwerken, Bots, Social-Media-Akteur*innen mit weniger als 500 Followern, Retweets/Dopplungen.
[2] Die Reichweite wurde ermittelt für Online-Medien gemäß der monatlichen Visits der Homepage laut ivw (Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern) bzw. Verlagsangaben geteilt durch 30 (→ tgl. Visits als Reichweite ausgewiesen), Blogs gemäß Alexa Web Information Service (System zur Reichweitenschätzung gemäß Visits), Foren gemäß Anzahl der Mitglieder, Facebook und Instagram gemäß Anzahl der Abonnenten, Twitter (jetzt X) gemäß Anzahl der Follower, YouTube gemäß Anzahl der Views.